„Советские люди?“ – Russlanddeutsche und andere nationale Minderheiten in der Sowjetunion nach 1956

Ein Forschungsprojekt von Helene Henze

Die 1960er und 1970er Jahre in der Sowjetunion waren gezeichnet vom ideologischen Anspruch, die soziale Realität der Menschen zu vereinheitlichen. Ziel war die Komplettierung des „sowjetischen Menschen“. Wie reagierte die russlanddeutsche Minderheit auf die propagierte „sowjetische Lebensweise“?


Den Ausgangspunkt der Forschungsarbeit bilden die Deportationen der Angehörigen der deutschen Minderheit im Laufe des 2. Weltkriegs, welche zusammen mit der Lagerhaft, dem Freiheitsentzug, der Zwangsarbeit, dem Hunger und den Demütigungen dieser Zeit als Trauma in das kollektive Gedächtnis der Sowjetdeutschen eingingen. Vor diesem Hintergrund untersucht das Projekt die Erfahrungen der Deutschen nach dem Tode Stalins und der Aufhebung ihres sogenannten „Sondersiedler“-Status und fragt nach den Faktoren, die eine Normalisierung der Lebensverläufe ermöglichten. Im Fokus stehen dabei zum einen die staatlichen Maßnahmen der Wiedereingliederung in die sowjetische Gesellschaft im Zuge der Chruschtschow’schen Wirtschaftspolitik und der überarbeiteten gesamtsowjetischen Propaganda. Zum anderen werden die individuellen Strategien der Adaptation und des gesellschaftlichen Aufstiegs in den Blick genommen und deren Ausprägung bei der älteren und bei den jüngeren Generationen der ehemals Repressierten verglichen. Die Zusammenschau der Schicksale und Entwicklungen unter den Vertreter*innen anderer repressierter Ethnien legt dabei gesamtsowjetische Kontinuitäten wie auch Abweichungen bloß. Die Frage nach der Rolle der urbanen Räume, in denen viele ehemalige Sondersiedler nach 1956 Arbeit und eine neue Heimat fanden, steht im Zentrum des Projekts. Als „Verdichtungskammern des Sowjetischen“ eröffneten die wachsenden Städte Sibiriens und Zentralasiens nicht nur Bildungs- und Berufschancen, sondern erforderten auch eine Anpassung an die darin staatlich eingeforderte ‚sozialistische Lebensweise‘. Sich darin erfolgreich behaupten konnte nur, wer bereit war, Alltagspraktiken, Kommunikations- und Konsumformen zu übernehmen und die eigenen Werte und Lebenszielen an die geforderte Norm anzugleichen. Ob diese Angleichung einer ‚sowjetische Prägung‘, der Werdung zu „sowjetischen Menschen“ gleichzusetzen ist, wird ebenso untersucht wie Erscheinungsformen des Widerstands und des Eigensinns. Methodisch dienen dabei sowohl Archivdokumente aus der sowjetischen Zeit als auch ein stetig wachsender Korpus von biografischen Interviews als Quellenbasis. Alles in allem leistet das Projekt ein besseres Verständnis der Sowjetisierung Zentralasiens im Späten Sozialismus und schließt eine Forschungslücke in der Geschichte der Deutschen aus Russland.

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